Von mir... warum will sie etwas über mich wissen?
Starcross denkt noch lange nach, aber letztlich ist Discoverys Frage unbeantwortet geblieben. Beide Mädchen haben sich, in ihre Mäntel gehüllt, auf dem Boden des Waggons eingerollt. Nun rumpelt der Frachtzug durch die Nacht und trägt sie unbemerkt ihrem Ziel entgegen.
Den schmerzhafte Knoten in ihrem Magen spürt Starcross Minute für Minute stärker. War es richtig, von der Insel fortzulaufen? Nur weil ihr Stolz gekränkt war... hatte diese ihr so unerträglich anmutende Behandlung vielleicht einen Sinn, den sie nicht verstand?
Würde sie je den Weg zurückfinden, wenn sie das je wollte? Wüde man sie aufnehmen oder wieder fortjagen? Sind alle Fäden zu ihrem alten Leben endgültig zerschnitten?
Ein kalter Luftzug streift Starcross' Nacken und die junge Kämpferin erinnert sich an das Geräusch des scharfen Metalls, als ihr die Haare abgeschnitten wurden. Wieder einmal fühlt sie sich klein, häßlich und nutzlos. Was kann sie schon - außer Unheil über Leute zu bringen, die sie nicht einmal kennt? Seit sie ein kleines Mädchen war, hatte sie auf der Insel gelebt und sie kaum je verlassen. Schafft sie es überhaupt ohne den Schutz der anderen? Sie kann Discovery nicht ständig zur Last fallen...
Und warum - warum nur ist sie mitgekommen. Eine erwachsene Assassine, die frei entscheiden kann, wohin sie geht - und doch hat Disc sich entschlossen, diesen unsicheren, gefährlichen Weg zu beschreiten... den Weg in ein Land, in dem keiner weiß, was auf sie beide warten wird.

Das Schweigen zwischen den beiden Assassinen dauert lange, und Discovery war nicht bereit, es zu zerbrechen. Trotz der unbeantworteten Frage ließ sie Starcross in Ruhe nachdenken. Letztendlich hat sie sich hingelegt und versucht, zu schlafen... Als könnte sie so etwas jetzt tun. Sie hatte schon lange gewusst, dass sie irgendwann die Insel verlassen würde, auf die eine oder andere Weise... jedoch hatte sie immer das Bestreben gehabt, sofort wieder zurück zu kehren, wenn sie es versucht hat. Die Insel war immer ihr Zuhause gewesen, der einzige Rückzugsort, dort lebten fast alle, die sie kannte, die sie sogar als Freunde bezeichnet. Und ihre Mutter... Discovery hat schon lange das Gefühl, dass Siren alles für sie ist... nur nicht ihre Mutter. Ausbildene, ja. Vertraute, vermutlich. Mutter? Ihre Gedanken schweigen. Vermutlich ist es besser, sich diese Frage nicht zu stellen. Sie ist immer loyal gewesen, hatte kaum Zweifel gehabt, sie hat ihre Arbeit geliebt. Sie liebt sie immer noch. Doch sie will den Geruch von Freiheit kennen lernen. Nicht das Vogelfreie, dem sie unterlagen, sondern richtige Freiheit, eine ohne Siren, ohne Alcatraz, ohne Racine. Eine, wo sie einfach nur Discovery sein wollte.
Disc stoppt in ihren Gedanken. Ist das der Grund, weswegen sie mit Starcross hier in diesem Zug liegt? Um die Freiheit kennen zu lernen? War sie nun frei?
Sie seufzt. So lange ihre Gedanken zu Siren wandern, so lange ihr Herz für Alcatraz schlägt, so lange ist sie nicht frei. Sie würde jederzeit zurückkehren, wenn Siren sie auffordern würde. Sie würde sogar Starcross verraten, wenn Siren es verlangen würde...
Starcross, die kleine Starcross, die sich immerzu Sorgen macht. Die im Glanz ihrer Schwester untergeht. Discovery wollte sie schon lange offiziell als Schützling übernehmen, doch sie hat sich nicht getraut. Bei jedem Einsatz könnte es sein, dass sie stirbt, und das wollte und will sie Starcross nicht antun. Sie weiß, wie sehr die Kleine sie bewundert...
Ruckartig steht sie auf, streift ihren Mantel von den Schultern und geht unruhig auf und ab. Dieses Herumliegen macht sie wahnsinnig, sie hat das Gefühl, es wäre verschwendete Zeit. Aber was könnte sie jetzt tun? Sie begnügt sich zunächst nur mit auf- und abgehen. Von links nach rechts, eine hypnotische Bahn durch die Kisten hindurch.

Ich will hier raus.
Starcross richtet sich ruckartig auf und schiebt die Deckenfetzen beiseite.
Ich halt es nicht mehr aus hier drinnen. Ich... geh rauf. Auf den Wagen. Vielleicht kann ich da die Sterne sehen.
Sie greift nach den Stoffresten um sich darin einzuwickeln und sieht dann zu Disc - auch wenn sie in der Dunkelheit ichts sieht.
Kommst du mit?

Discovery verharrt ruckartig, als sie Starcross' Stimme hört. Ein leises Seufzen erklingt aus ihrer Kehle und sie wendet sich Richtung Ecke, wo Starcross steht.
Die Sterne? Die Sterne sind schon lange für mich gestorben. Aber wenn du sie sehen willst...
Disc klippt eine kleine Diodentaschenlampe an die passende Halterung, die an dem Schulterstück ihrer Kleidung befestigt ist. Ein strahlend heller, weißer Lichtstrahl huscht ähnlich einem Suchscheinwerfer über den Boden, bis die Lampe richtig sitzt und Starcross anstrahlt. Für einen kurzen Moment mustert Disc das junge Mädchen.
Sie ist schön, so schön. Keine aufdringliche Schönheit, eine subtile, zarte, eine Schönheit, die nicht zu einer Assassine passt. Vielleicht ist es gerade das, was Discovery an ihr gefällt. Dieses für sie so außergewöhnliche Aussehen...
Mit einem leisen Knurren wendet Disc sich ab und hält auffordernd die Hand Richtung Starcross, ihr bedeutend, dass sie sich um das Rauskommen kümmern soll.

Nicht, bitte. Nicht das Licht. Es ist so hell.
Starcross wendet sich ab. Sie mag es nicht, direkt angeleuchtet zu werden und zieht rasch einen Fetzen als Schal über Kopf und Gesicht. Deswegen hat sie die acht gerne... im Mondlicht kann ein unansehliches Mädchen ein wenig hübscher sein als tagsüber.
Ich war auf Alcatraz oft draußen, wenn es Sturm gab. erzählt sie, während sie mit der älteren Frau das Zugdach erklimmt.
Ab und zu konnte man Lichter von der anderen Seite sehen. und ehen Sterne und Wind. Das fühlt sich an als sei man ein Vogel! Ich wollte das immer schon mal so machen wie jetzt!

In der Zwischenzeit sinkt die Sonne über der Zitadelle von Alamut. Die brennende Hitze lässt ein wenig nach und im Flimmern kann man langsam hohe Mauerreste erkennen.
Dies ist das bekannte Alamut, die Pilgerstätte für jene, die glauben, hier dem Tod näher zu sein. Keiner, der die Assassinen sucht, wird sie hier finden... nicht, indem er kommt und sucht.
Von den einst mächtigen Festungen sind kaum mehr als Ruinen übrig - aber im Schatten dieser Ruinen befinden sich Eingänge, Höhlen, Tunnel und Wege - wenn man weiß, wo man suchen muss. Ein Tempel der Vergänglichkeit... Quazvin ist eine andere Welt als Alcatraz - älter, dunkler und voller Mysterien. Selbst von den Assassinen von Alcatraz haben kaum ein Dutzend ihren Fuß in diese uralte Stätte gesetzt. Und wenn könnte es keiner bezeugen. Hier, in der Wiege der ältesten, ursprünglichsten aller Künste gibt es keine Namen, keine Titel oder Ränge. Hier gibt es nur das, was nötig ist, reduziert auf die letzte, trockene Notwendigkeit. Jeder hier hat Tage zwischen den Ruinen ausgeharrt, hat als Bettler oder Händler gelernt zu beobachten und nicht aufzufallen.

Erinnere dich daran, was ich sagte. Es wird ein Problem. murmelt eine Stimme. Sie gehört zu einer mittelgroßen, zart gebauten Gestalt, die in ein formloses, knielanges Gewand und weite Hosen gehüllt ist. Die bloßen Füße sind schmutzig vom Staub, die Hände und das Gesicht sonnenbraun gegerbt, aber darunter seltsam blass. Unter einem lose flatternden Schal lugen sibrighelle Strähnen hervor. Alles in allem scheinen ihre Umrisse vor dem Gestein zu verschwimmen, ebenso wie die der zweiten Gestalt, die auf einen herrischen Wink nun rasch zwischen den Felsen verschwindet.

Nachdem sie das Dach des Zuges erklommen hatte, kniete Disc regungslos auf dem Dach des Zuges. Die langen, violetten Haare peitschen ihr ins Gesicht, sodass sie schnell nach einem Band an ihrem Gürtel greift und sich die Haare aus dem Gesicht bindet. Die Taschenlampe auf ihrer Schulter stanzt einen weißen Krater in die Dunkelheit um sie herum, nur ab und an fliegt ein leuchtendes Bahnsignal vorbei. Die Kälte der Nachtluft sticht Discovery ins Gesicht, doch sie schützt es nicht. Der Schmerz der Kälte war fast schon angenehm... holt sie aus dem Gedankenlauf heraus, in dem sie seit dem Aufbruch von Alcatraz beschäftigt ist. Tief atmet sie durch und schließt kurz die Augen.
Es ist fast schon schön...

Ich mag die Nacht. Starcross kneift die Augen zusammen, erkennt aber nur rasende Lichtpunkte, die ihr nicht verraten, wo sie sich befindet.
Und ich hasse sie. Alles ist so friedlich, aber mit der Ruhe kommen Gedanken. Disc, hast du nie Angst... oder Sorgen? Sorgen, die die von innen heraus auffressen... wie bändigt man tanzende Gedanken bevor sich einen mit fortreißen?
Für einen Moment ist sie ruhig.
Ich war vor einer Weile noch wild entschlossen, von Alcatraz wegzuwollen. Aber ist Alamut richtig? Wir können nicht mal die Sprache. Wir wissen nichts...

Du kannst Fragen stellen...
Disc lacht leise, ihre Stimme wird fast vom Wind, der um sie peitscht, verschlungen. Genüsslich streckt sie sich kurz, reckt ihre Arme gen Nachthimmel.
Ich habe es nie anders gelernt, als dass meine Gedanken immer nach den Aufträgen kommen... das wichtigste ist das, was Siren sagt. Was ich zu tun habe, was ich gerade tue... und wenn die Gedanken doch einmal durch die Bahn brechen...Hm. Gute Frage. Ich schließe mich ein, lass niemanden an mich heran und schieße mir den Kopf frei. Natürlich nicht an lebenden Zielen.
Disc versucht, etwas lockerer zu klingen, sie lacht auf, um ihren kläglichen Witzversuch irgendwie zu überspielen. So alleine, nur mit einer anderen Assassine, auf dem Dach eines Zuges zu sitzen und irgendwo ins Nirgendwo zu fahren... So alleine hat sie sich noch nie gefühlt. So unüberwacht. So frei.
Es ist ein Teil der Geschichte der Assassinen... es gibt keinen Ort, an den ich lieber fahren möchte als Alamut. Hör auf, daran zu zweifeln, wenn ich gerade meine Zweifel abgelegt hab!

Es gibt auch keinen anderen Ort an den wir gehen können. Jedenfalls jetzt nicht mehr. Es sei denn, wir wollen mit eingekniffenem Schwanz zurück nach Hause schleichen. bemerkt Star.
Außerdem meinte ich das nicht. Ich wollte nicht wissen, wie du deine Gedanken betäubst, sondern was du machst, wenn sie dich mitreißen...

Diesmal liegt Discoverys Blick länger auf Starcross, ihre schlanken Finger spielen nachdenklich mit einer ihrer langen, violetten Haarsträhnen, die im Farbton denen von Siren gleichen. Irgendwann, noch immer schweigend, schweifen ihre Augen ab in die Dunkelheit, verfolgen die vorbeifliegenden Bahnsignale, betrachten für einige Momente den unbeweglichen Sternenhimmel. Dann seufzt sie leise.
Wie gesagt... mich einschließen, distanzieren, schießen. Mich mit mir selbst und dem beschäftigen, was ich kann... und versuchen, mich auf das zu konzentrieren, was wichtig ist. Was meine Rolle in diesem Spiel ist. Aber so ein wirkliches Allheilmittel ist das auch nicht... Man muss lernen, mit diesen Gedanken klarzukommen, akzeptieren, dass sie da sind. Und wenn sie einen fortreißen, ist ein bisschen Distanz nicht verkehrt...
Ihr Blick streift abermals über die Umgebung und über den Zug.
Wobei ich diese Art von Distanz noch nicht ausprobiert habe.
Ihre Stimme klingt flachsig wie bei einem Witz, doch ebenso meint sie ihn auch ernst. Ob die zeitweilige Trennung von der Assassineninsel hilft? Egal, ob emotional oder geografisch? Sie wird es sehen...
Ich frage mich, wann wir da sind...

Das frage ich mich auch. Woher wissen wir eigentlich, wann wir da sind? Das Ding hier wird ja kaum einfach anhalten... gibt Starcross zu bedenken.
Abkoppeln? Ich hab noch nie was entgleisen lassen. Oder springen?

Discs Blick streift über die finstere Umgebung, von der noch immer nicht viel zu erkennen ist, eder von der genauen Geschwindigkeit noch von der Topographie.
Abkoppeln. Springen wäre Selbstmord, es sei denn, wir bringen den Zug vorher zum stehen.
Ihr Blick wandert von der Umgebung zu Starcross vor sich, sie schmunzelt kurz.
Sonst zeig mir, wie du das machen würdest.

Starcross sieht an sich runter.
Sprengstoff habe ich nicht... also abkoppeln. Ich versuchs. Das muss ja irgendwie gehen.Sie arbeitet sich zum Ende des Waggons vor und sieht hinab.
Ganz schön schnel...murmelt sie, ehe sie sich behutsam an den Abstieg macht.